Informationen zu Theodor Ziehen

Theodor Ziehen Preis
der Thüringer Gesellschaft für Psychiatrie, Neurologie
und Kinder- und Jugendpsychiatrie (TGPNK)

Theodor Ziehen (1862-1950) gilt als einer der Gründerväter der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie. In Memoriam und unter Würdigung seiner medizinischen und philosophischen Arbeiten lobt die Thüringer Gesellschaft für Psychiatrie, Neurologie und Kinder- und Jugendpsychiatrie alljährlich den Theodor Ziehen Preis aus.
Dieser Preis wird an den besten Vortrag eines Nachwuchswissenschaftlers im Rahmen der Jahrestagung verliehen und ist mit 500 € dotiert. Die Auswahl aus den vorgestellten Arbeiten erfolgt durch Abstimmung der Zuhörer und des Vorstandes der Gesellschaft.

Biographie Theodor Ziehen

Nervenarzt, Psychologe, Philosoph und Kinderpsychiater

1 Schule und Studium

Anlässlich des 70. Geburtstages würdigt H. Graewe in der Deutschen Medizinischen Wochenzeitschrift Theodor Ziehen als eine vielseitige Persönlichkeit, derer Philosophen, Psychologen und Mediziner gedenken: “Trotz seiner bedeutenden Werke über psychiatrische Fragen und der zahlreichen Aufgaben, die ihm als Direktor der Psychiatrischen Kliniken in Utrecht, Halle und Berlin gestellt waren, vernachlässigte er seine philosophisch-psychologischen Studien nicht; von Natur aus fühlte er sich ja gerade zur Beschäftigung mit diesen letzten Fragen menschlichen Erkennens hingezogen” (Graewe1932). Mit seinem Werk “Die Geisteskrankheiten des Kindesalters” (1902, 1904, 1906) stellt Theodor Ziehen jedoch auch einen der Gründerväter der Kinderpsychiatrie in Deutschland dar (Abb. 1).

Porträt von Theodor Ziehen (1862-1950)
Abb. 1: Porträt von Theodor Ziehen (1862-1950)

Theodor Ziehen wurde am 12. November 1862 in Frankfurt am Main als Sohn eines evangelischen Theologen und Philologen, der später als Redakteur, Schriftsteller und Privatlehrer tätig war, geboren. Sein Bruder Ludwig wurde als Pädagoge und Historiker durch zahlreiche Publikationen bekannt. Theodor Ziehen besuchte die Musterschule von Frankfurt, die mit einem Realgymnasium verglichen werden konnte, bis zur Untertertia. Er erhielt zeitweise Zeichenunterricht im Städelschen Institut und nahm Klavierstunden bei seiner Mutter, wobei ihn die Liebe zur Musik und zum Klavierspiel sein Leben lang begleitete. Nachdem ihn sein Vater ein Jahr zu Hause unterrichtet hatte, absolvierte er ein humanistisches Gymnasium in Frankfurt, “wo er den Grund zu seiner später oftmals bewunderten Eloquenz und Kenntnis der klassischen Sprachen und Bildungsgüter gelegt haben wird” (Thiele 1952).

Theodor Ziehen beschreibt, dass bei ihm bereits in der Sekunda zum ersten Mal philosophische Interessen deutlich hervortraten. Er beschäftigte sich mit Plato, Schopenhauer (“Welt als Wille und Vorstellung”) und Kant: “Schon damals stand es mir fest, dass die Philosophie mein letztes Lebensziel sei” (Ziehen 1923). Er legte am 8. April 1881 das Abitur ab.

Theodor Ziehen entschied sich zum Medizinstudium, da er eines Stipendiums wegen der Geldnot der Eltern bedurfte, das von der Frankfurter Reformierten Gemeinde allerdings nur Medizinstudenten gewährt wurde. Im Jahr 1881 begann er in Würzburg Medizin zu studieren. Hier hörte er außerdem die mathematischen Vorlesungen von Prym und nahm an den philosophischen Kollegien sowie am Kolloquium von Georg Neudecker, der stark von Fichte beeinflusst war, teil. Er beschäftigte sich auf dessen Anraten mit neueren philosophischen Strömungen. Ostern 1883 legte er das Physikum ab und siedelte nach Berlin über. Ihm erschien die Psychiatrie aufgrund ihrer Beziehung zur Psychologie und damit zur Philosophie als das geeignetste Fach innerhalb der Medizin. In den Semesterferien wohnte er deshalb regelmäßig den ärztlichen Visiten in der Frankfurter Nervenklinik bei. Während seiner Studienzeit in Berlin arbeitete er im hirnphysiologischen Labor von Hermann Munk, wo er entscheidende Impulse für seine weitere Entwicklung erhielt. Seine medizinische Dissertation beschäftigte sich dann folgerichtig mit einem physiologischen Thema. Am 27. Juli 1885 erwarb er den medizinischen Doktorgrad mit der Arbeit “Über die Krämpfe infolge elektrischer Reizung der Großhirnrinde” in Berlin. Wesentliche Einflüsse verdankt Theodor Ziehen auch dem damaligen Psychiater und Neuropathologen an der Charité Carl Westphal. Gleichzeitig unternahm er wiederum mathematische Studien auf Anregung des Mathematikers Prym und erweiterte sie auf die theoretische Physik. Auf Grund des frühen Todes seiner Eltern war er gezwungen, das Medizinstudium bereits im Juli 1885 im neunten Semester abzuschließen.

2 Berufliche Laufbahn
2.1 Görlitz und die Jenaer Jahre

Im Sommer 1885 nahm Theodor Ziehen auf eine Zeitungsannonce hin die Tätigkeit als Volontärassistent an der weit über die Grenzen Deutschlands hinaus berühmten Privatirrenanstalt von Karl Ludwig Kahlbaum in Görlitz/Niederschlesien auf, “wo namentlich das Medizinische Pädagogium ihn beschäftigte” (Trüper 1900). In dessen Rahmen hatten junge Patienten, insbesondere Jugendliche mit Hebephrenie und “moralischem Irresein”, die Möglichkeit, am Schulunterricht und an ergotherapeutischen Maßnahmen, sogar am Turnen teilzunehmen. Kahlbaum ging auch wissenschaftlich kinder- und jugendpsychiatrischen Fragestellungen nach. In Görlitz begann Theodor Ziehen schon mit kleineren experimentalpsychologischen Arbeiten.

Otto Binswanger, der von 1882 bis1919 als Direktor die Psychiatrische Klinik in Jena leitete, bot Theodor Ziehen aufgrund der Doktorarbeit eine Oberarztstelle in seiner Klinik an. Dieser Offerte leistete er im Mai 1886 Folge. Er unterbrach die Fahrt nach Jena in Leipzig für einige Stunden, um dort Wilhelm Wundt zu hören, der in Deutschland die Psychologie entscheidend prägte. In Jena blieb Theodor Ziehen 14 Jahre: “Es ist die fröhlichste und sorgloseste Zeit meines Lebens gewesen, zugleich die Zeit, in der ich der Freundschaft und dem Verkehr am zugänglichsten war” (Ziehen 1923). Im Juli 1887 erfolgte die Habilitation mit dem Thema “Sphygmographische Untersuchungen an Geisteskranken”, und er wurde im gleichen Jahr zum Privatdozenten berufen. In die Jenaer Zeit fällt auch die Behandlung des Philosophen Friedrich Nietzsche, der möglicherweise an progressiver Paralyse erkrankt war, in den Jahren 1889 und 1890, wovon das Krankenjournal und Briefe unter anderem an die Mutter Franziska Nietzsche beredtes Zeugnis ablegen. 1898 hatte er Nietzsche in Weimar nachuntersucht ( Volz 1990).

Der Dekan der Medizinischen Fakultät lehnte im März 1891 den Vorschlag ihn zum außerordentlichen Professor zu ernennen ab, da er noch nicht genügend “Arbeiten von entsprechender Tüchtigkeit” aufzuweisen habe (UAJ, L 229, Nr. 165). Am 2. August 1892 erfolgte dann die Berufung zum außerordentlichen Professor (UAJ, L 233, Nr. 160), die von Binswanger angeregt wurde (UAJ, L 232, Nr. 188). Von 1893 bis 1894 wirkte auch Oskar Vogt an der Klinik.

Von Binswanger wurden auch seine experimentalpsychologischen Studien finanziell unterstützt, so dass die Beschaffung der notwendigsten Apparaturen möglich war. Darüber hinaus richtete er sich ein kleines Privatlabor ein. Kinderpsychiatrische Erfahrungen erwarb er sich durch seine Tätigkeit als ständiger Konsiliarius des Trüperschen Erziehungsheimes. Als Arzt habe er im Zeitraum von 1890 bis 1900 112 Zöglinge der Anstalt betreut (Trüper 1900, 1917). Umfangreiche Untersuchungen an Schulkindern wurden von ihm in Zusammenarbeit mit dem Pädagogen Wilhelm Rein durchgeführt, in dessen “Enzyklopädischen Handbuch der Pädagogik” er eine Reihe von Artikeln verfasste. 1896 verließ er die Klinik und übte eine nervenärztliche Privatpraxis in Jena aus. Das Personal- und Vorlesungsverzeichnis enthält eine Aufstellung der Kollegs von Theodor Ziehen noch bis zum Wintersemester 1900/01. Keinen Erfolg hatte er mit seinen Bemühungen einen Lehrauftrag für Psychologie in Jena zu erhalten. Sein Wunsch sich schon damals als philosophischer Privatgelehrter zu etablieren, scheiterte an der Begrenztheit seiner finanziellen Mittel.

2.2 Utrecht, Halle, die Berliner Zeit und Wiesbaden

Im Jahr 1900 folgte Theodor Ziehen einem Ruf auf den psychiatrischen Lehrstuhl in Utrecht (Niederlande). Die Bedingungen für seine experimentalpsychologischen Studien waren hier recht günstig, jedoch wurde der zwar nicht versprochene, aber in Aussicht gestellte Aufbau einer Psychiatrischen und Neuropathologischen Klinik nicht verwirklicht.

Nach Ausscheiden des bisherigen Ordinarius für Psychiatrie in Halle Eduard Hitzig wurde im Juli 1903 Theodor Ziehen auf diesen Lehrstuhl berufen. In dieser Zeit war auch Karl Kleist in der Halleschen Klinik tätig. Als Klinikleiter war Theodor Ziehen sehr korrekt, so achtete er zum Beispiel jeden Tag darauf, dass alle Räume gründlich gesäubert waren (Kleist1959).

In Halle blieb er lediglich ein halbes Jahr, da er bereits am 1. April 1904 die Nachfolge von Friedrich Jolly als Direktor der neu erbauten Klinik für Psychische und Nervenkrankheiten an der Charité antrat. Theodor Ziehen setzte sich dabei gegen den an erster Stelle stehenden Carl Wernicke durch. An dritter Stelle der Berufungsliste wurde Karl Bonhoeffer geführt. Warum das Kultusministerium gegen den von der Medizinischen Fakultät favorisierten Wernicke entschied, ist nur bedingt nachzuvollziehen (Seidel 1987). Theodor Ziehen ” gelang in hervorragendem Maße das, was schon Jolly erstrebt hatte: eine didaktische Darstellung seines Gebietes in der Vorlesung. Sein klarer, formvollendeter Vortrag, den er durch seine eigene Art des Wechsels von Betonung und Stimmlage (zur Hervorkehrung des Wesentlichen) meisterlich zu nuancieren verstand, war für uns Hörer ein ästhetischer Genuss. Seine Einteilung der Geisteskrankheiten, die nicht überall Zustimmung fand, hatte für den Lernenden den Vorzug, klar und verständlich zu sein” (Munk 1956). Die umfangreichen Aufgaben als Klinikdirektor und in der Privatpraxis ließen ihm immer weniger Zeit, seinen philosophischen Neigungen nachzugehen: “Ich kam selten vor abends 10 oder 11 Uhr zur philosophischen Tätigkeit… Ich stand in Gefahr, in die Psychiatrie endgültig eingesperrt zu werden” (Ziehen 1923). So reifte bei ihm ab 1908 der Wunsch, sich “ganz in die Einsamkeit und in die Philosophie zurückzuziehen” (Ziehen 1923). Zum 1. April 1912 wurde offiziell vom Kultusminister seiner Verabschiedung aus dem Staatsdienst stattgegeben.

Im Jahr 1912 übersiedelte Theodor Ziehen nach Wiesbaden, um ausschließlich seine philosophischen und psychologischen Arbeiten fortzuführen. Während des ersten Weltkriegs wurde ihm die Aufgabe übertragen, am Aufbau der Flämischen Universität in Gent mitzuarbeiten. Im Jahr 1885 war er wegen “Brustschwäche” für wehrundtauglich erklärt worden.

2.3 …und wieder Halle und Wiesbaden

Im Jahr 1917 wurde er erneut nach Halle allerdings auf einen Lehrstuhl der Philosophischen Fakultät berufen, der die Vertretung der Psychologie mit einschloss. So wurde er zum ordentlichen Professor für Philosophie, zum Mitdirektor des Philosophischen Seminars und zum Leiter der Psychophysischen Sammlung bestimmt. Neben seinen philosophischen Arbeiten beschäftigte er sich weiter mit kinderpsychiatrischen und pädagogischen Themen. Im Jahr 1922 erfolgte seine Wahl zum Dekan der Philosophischen Fakultät und 1923 nahm er eine Gastprofessur in Madrid an. Einen Höhepunkt bedeutete 1927 die Wahl zum Rektor der Halleschen Universität. Auf sein eigenes Ersuchen wurde Theodor Ziehen 1930 vorzeitig emeritiert und zog sich nach Wiesbaden zurück.

Im Jahr 1944 wurde er auf Weisung der Reichsärztekammer gezwungen, seine ärztliche Tätigkeit im Rahmen einer nervenärztlichen Praxis wieder aufzunehmen. Nach dem zweiten Weltkrieg geriet er immer mehr in wirtschaftliche Not, die auch durch die von ihm erbetene finanzielle Unterstützung durch die Universität Halle nur bedingt gelindert werden konnte. Eine erneute Berufung nun an die Pädagogische Fakultät in Halle verhinderte sein sich verschlechternder Gesundheitszustand, so dass er im Juli 1948 auf eine Rückkehr nach Halle verzichten musste. Am 29. Dezember 1950 verstarb Theodor Ziehen in Wiesbaden.

3 Familie, Persönlichkeit, Ehrungen

Am 15. Dezember 1893 fand die Trauung von Theodor Ziehen mit Marie Schroen, der Tochter eines Jenaer Augenarztes, statt. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Die Tochter Maria wurde am 30. Juli 1898 geboren und war später als Studienrätin in Hildesheim tätig. Der am 5. Oktober 1899 geborene Sohn Vult studierte Zoologie und Medizin. Er trat in die Fußstapfen seines Vaters und war an der Münchener Nervenklinik unter Oswald Bumke beschäftigt. Zuletzt hatte er die Funktion des stellvertretenden Direktors der Heil- und Pflegeanstalt Haar inne (Kreuter 1996). Der am 9. April 1903 geborene jüngste Sohn Siegfried war wegen einer angeborenen schwersten Hirnschädigung zeitlebens pflegebedürftig und verstarb früh (Seidel 1988).

Theodor Ziehen selbst beschreibt sich als einen Menschen, der seit früher Jugend die Einsamkeit der Geselligkeit vorzog (Ziehen 1923). Auch Thiele, ein Schüler von Theodor Ziehen, schildert ihn als eine distanzierte Persönlichkeit, die sich lediglich einem vertrauten Kreis öffnete. Er sei ein glänzender akademischer Lehrer gewesen und durch die klare, disziplinierte und eindringliche Art seines Vortrags den Hörern in Erinnerung geblieben. Gegenstand mancher Anekdoten und sprichwörtlich war seine enorme Arbeitskraft, persönliche Bedürfnislosigkeit und Pünktlichkeit. Schon in der Studienzeit habe er sich die literarische Welt von Jean Paul erschlossen, die für ihn während seines gesamten Lebens ein Herd der Freude gewesen sei (Thiele 1952). Trüper (1900) hob seine sehr bescheidenen Lebensansprüche und seine fortschrittliche Einstellung hervor: “Er gehörte auch keineswegs zu den mittelalterlich Denkenden des 19. Jahrhunderts, die da tun, als wenn der Fußboden eines akademischen Hörsaales brechen oder entweiht werden würde, wenn weibliche Wesen oder nicht Immatrikulationsfähige ihn betreten möchten.” In seiner Selbstdarstellung 1923 schätzte sich Theodor Ziehen als relativ wenig ehrgeizig ein: “Anerkennung hat mich natürlich wie jeden anderen gefreut, aber ich muss gestehen, dass ich doch eigentlich niemals diese Anerkennung als Ziel betrachtet habe”. Seinen Patienten und seinen Kindern gegenüber sei er sehr autoritär aufgetreten (Herberhold 1977). Neben den klassischen Sprachen beherrschte er Englisch, Französisch, Spanisch und Holländisch, in denen er auch publizierte, sowie Italienisch (Giese und von Hagen 1958). Im hohen Alter begann er noch die russische Sprache zu erlernen (Seidel 1987). In den Jenaer Jahren ging er der Jagdleidenschaft nach.

Einen schweren Schicksalsschlag bildete der Tod seiner Ehefrau am 3. Februar 1945 als Folge eines Luftangriffes am 2. Februar 1945. Bereits am 13. Januar 1945 wurde die Wohnung in der Viktoriastraße in Wiesbaden ausgebombt. Nach einigen Provisorien fand er Unterkunft und Betreuung in dem Marien-Institut der Englischen Fräulein, das er bis zur Aufnahme ins Krankenhaus wegen eines arteriosklerotischen Verwirrtheitszustandes mit aphasischen Störungen 1950, wo ihn der Tod ereilte, nicht verließ (Thiele 1952).

Im Jahr 1910 ehrte die Philosophische Fakultät der Berliner Universität die Verdienste von Theodor Ziehen auf dem Gebiet der Philosophie und Psychologie durch Verleihung der Ehrendoktorwürde. Weiterhin führte er den Titel eines Geheimen Medizinalrates. Mit seinem Werk “Lehrbuch der Logik” (1920) konnte er 1922 den Preis der “Richard-Avenarius-Stiftung” erlangen. Im Jahr 1933 wurde er im Goldenen Buch der Universität in Halle vermerkt. An seinem 80. Geburtstag 1942 wurde er zum Ehrenmitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher (Leopoldina), deren Mitglied er seit 1919 war, ernannt. Die von der Universität Halle initiierte “Verleihung des ‘Adlerschildes’ unterblieb schließlich – ob wirklich nur wegen versäumter bürokratischer Termine, ist nicht zu ersehen” (Eulner und Glatzel 1958). Theodor Ziehen war nicht Mitglied der NSDAP und distanzierte sich vom Nationalsozialismus, was ein Grund für die nicht gewährte Ehrung gewesen sein könnte (Seidel 1987). Der Pathologe und Medizinhistoriker Rudolf Beneke stellte ihn bei seiner Begründung für die Auszeichnung mit Leibniz auf eine Stufe (Eulner und Glatzel 1958). Ebenso wurde der rege Zulauf zu seinen beliebten ästhetischen und philosophischen Vorlesungen in Halle mit dem zu den Vorlesungen von Albert Einstein in Berlin verglichen (Seidel 1987). Schon in Jena gehörten seine Kollegs zu den besuchtesten der Universität, die sogar Ausländer in die Stadt zogen (Trüper 1900).

4 Werk
4.1 Der Hirnanatom und -physiologe

Der Anatom und Dekan Waldeyer unterstützte die Besetzung des Berliner Lehrstuhls mit Theodor Ziehen 1904 mit folgenden Worten: “…wie ersichtlich, hat sich Ziehen in richtiger Erkenntnis des für eine sichere Ausbildung Erforderlichen, insbesondere mit den für sein Fach grundlegenden Wissenschaften, der Anatomie und Physiologie des Nervensystems und der Psychologie beschäftigt, und zwar in so ausgezeichneter Weise, dass er bereits als einer der ersten Autoritäten auf diesen Gebieten gelten darf. Sein großes Werk über das Centralnervensystem der Monotremen und Marsupialier sowie sein Handbuch der Anatomie des Centralnervensystems sind Musterleistungen; volles Lob verdienen auch sein Leitfaden der physiologischen Psychologie und seiner psychophysiologischen Erkenntnistheorie. Für das Handbuch der topographischen Anatomie von K. v. Bardeleben, Haeckel und Frohse hat Ziehen einige topographisch-anatomische Tafeln des Nervensystems entworfen, die schnell ihre Verbreitung fast in aller Welt gefunden haben” (Seidel 1987). Die Fürsprache Waldeyers soll entscheidend für die Besetzung des Lehrstuhls gewesen sein (Thiele 1952). In seiner Eigenschaft als Berliner Ordinarius beurteilte er auch die Habilitationsschrift von Korbinian Brodmann mit dem Thema “Die zytoarchitektonische Kortexgliederung der Halbaffen”, die wahrscheinlich aufgrund seines Gutachtens als ungenügend abgelehnt wurde (Vogt 1959).

Die wichtigsten Arbeiten auf hirnanatomischen und -physiologischen Gebiet, die sich mit vergleichender Anatomie und Entwicklungsgeschichte befassten, lagen in den Anfangsjahren seiner Forscherlaufbahn und reichen in die Zeit der Berliner Professur etwa bis 1910. Danach beschränkte er sich auf die Herausgabe weiterer Teile der mikroskopischen und makroskopischen “Anatomie des Zentralnervensystems” bis 1934 und “Beiträgen zur vergleichenden Anatomie des Kleinhirns” (1934/35).

4.2 Der Neurologe und Psychiater

Auch im Rahmen seiner neurologischen Tätigkeit wurden von Theodor Ziehen einige Arbeiten bis 1912 insbesondere über syphilitische Erkrankungen, Ophthalmoplegien, Myoklonien, Muskelatrophien, Chorea, Hirntumoren und -thrombosen, spastischen Torticollis, Fazialislähmungen, Ataxien und Syringomyelie publiziert. Eine kinderneurologische Schrift zu den “Krampfkrankheiten im schulpflichtigen Alter” von 1905 scheint beachtenswert. Seinen Namen trägt das Ziehen-Schwalbe-Oppenheim-Syndrom, die erbliche Torsionsdystonie.

Als sein wichtigstes Werk auf psychiatrischen Gebiet kann man sicher sein Lehrbuch “Psychiatrie”, das in vier Auflagen von 1894 bis 1911 verlegt wurde, betrachten. Hierbei hat Theodor Ziehen den Versuch unternommen, die Assoziationspsychologie auf die klinische Psychiatrie anzuwenden (Ziehen 1894). Bei diesem Buch “ist man beeindruckt von der Geschlossenheit des ganzen Lehrgebäudes, das jedem Gegenstande und jedem Problem gleichsam zwanglos seinen systematischen Ort anweist…Tatsächlich hat die klinische Psychiatrie, wesentlich unabhängig von psychologischen Schulmeinungen und, jedenfalls der Absicht nach, nur die Erfahrung als ihre Lehrmeisterin anerkennend, ganz andere Wege eingeschlagen, als sie Ziehen damals aussichtsvoll erschienen” (Thiele 1952). Bedeutsam ist dieses Buch nicht zuletzt dadurch, dass er darin den Begriff “Affektive Psychosen” in die psychiatrische Nomenklatur einführte. Bei der Gliederung der sogenannten funktionellen Psychosen ging er auf Distanz zu Kraepelin und bediente sich zur Beschreibung neben der Psychopathologie auch der Verlaufskriterien (Lanczik und Elliger 1988). Parallelen finden sich eher zu Wernicke mit seiner psychopathologischen Klassifizierung als zu Kraepelins ätiologisch geprägter Ordnung (Seidel 1988). Nach Meyer (1921) soll aber Theodor Ziehen, dem er einen Mangel an nosologischen Ambitionen vorwarf, Kraepelin beeinflusst haben. Alle Psychosen, auch die funktionellen, sind nach der Meinung von Theodor Ziehen Erkrankungen der Hirnrinde. Die Klassifikation folgt einem klaren und logischen Prinzip, das allerdings nicht ausreichend die Komplexität der Erscheinungen wiedergab, da es die ätiologischen Aspekte vernachlässigte und daher klinisch weniger tauglich war (de Boor 1954). Erwähnenswert erscheinen auch seine Monographien über die Melancholie (“Die Erkennung und Behandlung der Melancholie in der Praxis”, 1896, 1907; “The Diagnosis and Treatment of Melancholia”, 1898 im American Journal of Insanity). Nach dem Verzicht auf den Lehrstuhl in Berlin erschienen nur noch vereinzelte psychiatrische Veröffentlichungen, wie zum Beispiel über die psychopathischen Konstitutionen. Dies trifft jedoch nicht auf kinderpsychiatrische Fragestellungen zu. Ab 1897 war er zunächst Mitherausgeber und von 1905 bis 1913 allein verantwortlich für die “Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie”.

4.3 Der Psychologe und Philosoph

Theodor Ziehen gehört neben G. E. Müller und Ebbinghaus zu den Hauptrepräsentanten der Assoziationspsychologie. Er hat immer die Psychologie als Bindeglied zur Philosophie betrachtet. “Bei allen psychologischen, hirnphysiologischen und hirnanatomischen Untersuchungen der damaligen Zeit schwebte mir doch immer als Ziel ein gesamtes philosophisches System und als seine Grundlage eine alles Gegebene umfassende Erkenntnistheorie vor” (Ziehen 1923). Neben den bereits erwähnten klassischen Philosophen übten Spinoza und Berkeley, ein Vertreter des englischen Sensualismus, den stärksten Einfluss auf ihn aus. Gedanken Berkeleys finden sich in den philosophischen Grundannahmen von Theodor Ziehen wieder, wobei er im Unterschied Gott nicht als Ursache der Wahrnehmung ansah (Stein 1957). Er war ein Gegner des voluntaristischen Apperzeptionismus von Wilhelm Wundt, da er diesen nicht geeignet fand, die Phänomene des normalen und krankhaften Seelenlebens zu deuten (Ziehen 1894). In der Überordnung der hypothetischen Apperzeption über das Spiel der Assoziationen erkannte er einen Rückfall in die der Vergangenheit angehörenden spekulativen Psychologie. Das Schaffen von Theodor Ziehen bildete einen Höhepunkt in der experimentellen Psychologie, wobei er als Autodidakt angesehen werden muss. Er war der erste, der ohne besonderen Lehrauftrag die physiologische und experimentelle Psychologie an der Jenaer Universität wahrnahm. Er begeisterte die Hörer in Jena mit seinen psychologischen Übungen und brachte 1891 den “Leitfaden der physiologischen Psychologie” heraus, der sich eng an die Lehren der englischen Assoziationspsychologen um Berkeley und die Gedanken von Meynert anlehnte (Stein 1957). Dieses Werk hat bis 1924 insgesamt 12 Auflagen erfahren. Unter physiologischer Psychologie versteht er den Teil der empirischen Psychologie (Psychologie, die mit naturwissenschaftlichen Methoden das Psychische zu erkennen versucht), der im Gegensatz zur transzendentalen Psychologie psychische Vorgänge an Hirnfunktionen gebunden sieht (Ziehen 1891). Gemäß seinen Vorstellungen setzt sich jeder psychische Grundprozeß aus drei wesentlichen Teilen zusammen, aus der Empfindung oder Wahrnehmung, dem Spiel der Motive oder der Erinnerungsbilder, was der Assoziation entspricht, und der Handlung. Mit der Akzeptanz der Grundvorgänge Synthese, Analyse und Komparation geht er allerdings über die eigentliche Assoziationspsychologie hinaus. Gefühle, Stimmungen und Affekte sind in seinen Augen keine eigenständigen psychischen Phänomene, sondern bilden Eigenschaften der Empfindungen und Vorstellungen (Oesterreich 1951). Insgesamt bekennt er sich zu einer monistischen Auffassung.

Seiner Lebensüberzeugung treu, dass die Psychologie das Bindeglied zur Philosophie darstellt, verfasste er 1898 die “Psychophysiologische Erkenntnistheorie”, in der er sein “binomistisches Prinzip” begründet, worunter er die zwiefache Gesetzmäßigkeit, die Kausal- und Parallelgesetzmäßigkeit, versteht. Der Gesetzesbegriff steht an oberster Stelle, so dass in einem gesetzmäßigen Weltbild das letzte Ziel jeder Erkenntnis liegt (Graewe 1932). Trotz seines erklärten Willens ist seine Philosophie nicht frei von metaphysischen Betrachtungen (Flügel 1912). In der 1913 veröffentlichten Abhandlung “Erkenntnistheorie auf psychophysiologischer und physikalischer Grundlage” setzte er sich mit der Kantschen Lehre und dem Kritizismus (Transzendentalphilosophie) auseinander, grenzte sich von der Theorie des psychologischen Parallelismus ab (Ruthe 1914), den er aber für die psychiatrische Praxis gelten ließ, und näherte sich in einer gewissen Weise der Auffassung von Schelling an (Stein 1957). In der 1915 erschienenen zweibändigen Ausgabe der “Grundlagen der Psychologie” vertritt er die Position eines monistischen Positivismus, den er Immanenzprinzip nennt. Das Problem der Seele, des Ich, der Beziehung der verschiedenen Funktionen zueinander und der Selbstwahrnehmung sowie die Position der Psychologie im Gesamtsystem der Wissenschaften werden unter anderem dargestellt. Die Vorstellung eines unbewussten Seelenlebens wurde von ihm klar abgelehnt. Im Jahr 1920 wandte er sich mit dem “Lehrbuch der Logik” den formallogischen Gesetzmäßigkeiten und 1922 der Naturphilosophie (“Kurzer Abriss zur Grundlage der Naturphilosophie”) zu. Weiterhin widmete er sich der Ästhetik, der Ethik und der Religions- und Geschichtsphilosophie sowie Fragen der angewandten Psychologie (zum Beispiel: “Die Psychologie großer Heerführer – Der Krieg und die Gedanken der Philosophen und Dichter vom ewigen Frieden” 1916, “Grundlagen der Charakterologie” 1930). Oesterreich (1951) führt aus, dass Theodor Ziehen auf dem Standpunkt von Mach und Avenarius stehend seine komplizierte Lehre entwickelte, die aber nichts grundsätzlich Neues beinhaltete: “Seine Arbeiten sind durch enormen Kenntnisreichtum und Scharfsinn ausgezeichnet…”. Die idealistische Erkenntnistheorie von Theodor Ziehen bildete einen Gegensatz zu den aufkommenden materialistischen Anschauungen in den Naturwissenschaften. In seiner Antrittsrede “Über die Beziehungen der Psychologie zur Psychiatrie” am 10. Oktober 1900 an der Universität Utrecht zeigte Theodor Ziehen, dass sich die moderne Psychiatrie von der spekulativen zur empirischen Psychologie hin bewegt und damit über die physiologischen Methoden orientiert sein, das Experiment nutzen und die Parallelbeziehungen der seelischen Prozesse zu den physiologischen des Gehirns beachten muss.

Von 1899 bis 1944 war er Mitherausgeber der “Zeitschrift für Psychologie”. Außerdem wurde von ihm seit 1897 eine “Sammlung von Abhandlungen aus dem Gebiete der Pädagogischen Psychologie und Physiologie” mitherausgegeben.

Theodor Ziehen hat mit seiner Assoziationspsychologie eine breite Resonanz gefunden. Seine Anhänger haben allerdings in der Folge versucht, die mechanisch-atomistische Einseitigkeit im Rahmen eines ganzheitlichen Systems zu überwinden (Stein 1957). Als ein später Verfechter der Lehre ist Rensch anzuführen (Rensch 1968). Von marxistischer Seite waren seine philosophischen Anschauungen einer herben Kritik ausgesetzt, was nicht verwunderlich erscheint, da seine idealistische Erkenntnistheorie, wenn auch nicht politisch intendiert, eine antimarxistische Komponente besaß (Lenin 1964). So schreibt Lenin 1908: “Ziehens Philosophie stellt wohl das Verfahrenste dar, was sich bisher der deutsche Eklektizismus geleistet hat und bildet gleichzeitig ein markantes Beispiel für den Tiefstand der modernen deutschen Philosophie” (Herberhold 1977). Abschließend kann gesagt werden, dass Theodor Ziehen immer mehr Psychologe als Philosoph gewesen war (Stein 1957), so formt seine Psychologie die Grundlagen für seine Philosophie. Die Grundprinzipien seines Denkens sind durch Realismus und Objektivismus geprägt, die ihren Ausdruck in einem absoluten Intellektualismus finden. Nichtsdestoweniger findet man zwischen seiner physiologischen Psychologie und Erkenntnistheorie einige deutliche Widersprüche (Herberhold 1977).

4.4 Der Kinder- und Jugendpsychiater

Von den 445 Publikationen von Theodor Ziehen, wobei die Angaben in der Literatur schwanken (Giese 1958: 254, Herberhold 1977: 121, Kreuter 1996: 185), befassen sich 52 mit kinder- und jugendpsychiatrischen Themen im weiteren und engeren Sinn. Eine Auswahl zeigt die Abbildung 2.

Die Ideenassoziation des Kindes (1898,1900) Psychosen in der Pubertät (1901) Die Geisteskrankheiten des Kindesalters (1902, 1904, 1906, 1915, 1917, 1926) Krankhafte psychische Konstitution im Kindesalter (1906) Erbliche Anlage zu Geistesstörungen bei Kindern (1908, 1909) Die Erkennung des Schwachsinns im Kindesalter (1909,1913) Ethische Defektzustände in der Pubertät (1910) Erkennung und Behandlung leichter Schwachsinnsformen in den Kindergärten (1916) Das Seelenleben des Jugendlichen (1923, 1927, 1931, 1943, 1947)

Abb. 2: Wichtige Publikationen zu kinderpsychiatrischen und -psychologischen Themen

Die ersten entwicklungspsychologischen Untersuchungen unternahm Theodor Ziehen in Jena in Zusammenarbeit mit Wilhelm Rein, der ihm dazu Kinder aus seiner Seminarschule vermittelte. Hierbei ging es insbesondere um Studien zur Ideenassoziation hinsichtlich des Vorstellungsschatzes, des Vorstellungsablaufs bei gegebener Anfangsvorstellung und der Geschwindigkeit des Vorstellungsablaufs unter bestimmten Voraussetzungen (Ziehen 1898). Die publizistische Beschäftigung zur kinder- und jugendpsychiatrischen bzw. -psychologischen Thematik beginnt mit den Werken “Die Ideenassoziation des Kindes” (1898,1900) und “Psychosen in der Pubertät” (1901) und endet 1947 mit der letzten Auflage der Abhandlung “Das Seelenleben der Jugendlichen”.

Sein Werk “Die Geisteskrankheiten des Kindesalters mit besonderer Berücksichtigung des schulpflichtigen Alters”, dessen erster Teil 1902 erschien, dürfte das zweite wirklich bedeutende Werk der Kinderpsychiatrie in deutscher Sprache sein. Im Anhang des dritten Abschnitts (1906) findet man eine “Schematische Anweisung zur psychischen Untersuchung bei geisteskranken Kindern”. Die Schrift sollte sowohl der Ausbildung der Ärzte als auch der Beratung der Lehrer dienen. Die Bedeutung von Theodor Ziehen besteht in diesem Zusammenhang in der Neugruppierung der Psychosen, worunter er alle psychischen Erkrankungen versteht. Von ihm wurde für das Kindesalter keine spezifische Klassifikation der psychischen Störungen entworfen. Er bediente sich vielmehr der Einteilung, die er für den Erwachsenenbereich entwickelt hatte. Folgerichtig verzichtete er auf eine Abhandlung der allgemeinen Psychopathologie des Kindesalters. Im 1902 veröffentlichten ersten Teil seines Werkes besprach er die angeborenen und erworbenen Defektpsychosen, während er sich in den späteren Fortsetzungen (1904, 1906) auch den Psychosen ohne Intelligenzdefekt, den funktionellen Psychosen, zuwandte. Als wichtigstes Unterscheidungskriterium legte er somit das Intelligenzniveau zugrunde. Die Defektpsychosen gliederte er in die Imbezillität, der er einen Umfang von etwa einem Buchdrittel einräumte, und die Dementia-Formen. Darunter fiel auch die “Dementia hebephrenica (praecox)”. Zu den Psychosen ohne Intelligenzdefekt zählte er die einfachen und zusammengesetzten Formen. Unter die einfachen Psychosen wurden die affektiven und intellektuellen Untergruppen subsumiert. Die Manie und Melancholie gehörten zur affektiven Kategorie; Stupidität, Amentia, Dämmerzustände und anfänglich noch die psychopathischen Konstitutionen zur intellektuellen Gattung. Die zusammengesetzten Psychosen bildeten die periodische Manie und Melancholie, das zirkuläre Irresein sowie die periodischen Verlaufsformen der Paranoia oder Amentia und der impulsiven (phrenoleptischen) Zustände. Theodor Ziehen beschrieb die entwicklungsbedingten Aspekte der Melancholie im Kindesalter, wie körperliche Symptome, Hypochondrie und Skurrilität, und betonte, dass Enuresis, Nahrungsverweigerung, Reizbarkeit und delinquentes Verhalten auf prä- und peripubertäre Melancholien deuten können. Ein weiterer Verdienst von ihm war, dass er auf die relative Häufigkeit der kindlichen Melancholie hinwies (Lanczik und Elliger 1988). Die Konzeption der psychischen Krankheitsbilder im Kindesalter scheint zum großen Teil auf Emminghaus zurückzugehen, den er konsequenterweise in seinem Literaturnachweis erwähnt (Ziehen 1902, 1906). In den folgenden Ausgaben führte er ebenfalls Strohmayer mit seiner Monographie “Vorlesungen über die Psychopathologie des Kindesalters” (1910) an. Die Störungsbilder der Manie und Melancholie werden bei Theodor Ziehen und Emminghaus ziemlich identisch dargestellt. Unterschiede bestehen in der Zuordnung der “dementia acuta” von Emminghaus, die Theodor Ziehen als Stupidität erfasst, und der Krankheitseinheit “Hysterie” von Emminghaus, deren psychopathologisches Bild sich bei Theodor Ziehen bei den Dämmerzuständen und den psychopathischen Konstitutionen findet (Werner 1983). Eine Neuerung in seinem Klassifikationssystem war die Einführung der psychopathischen Konstitution, durch die er den Begriff der psychopathischen Minderwertigkeit von Koch ersetzte. Er ordnete sie zunächst den intellektuellen Psychosen zu, stellte sie später aber als Form der Psychosen ohne Intelligenzdefekt den vollentwickelten Psychosen, das heißt den einfachen und periodischen Psychosen, als eigene Gruppierung gegenüber (Ziehen 1926). Damit begann die Unterscheidung zwischen Persönlichkeits- und psychotischen Störungen. Die psychopathischen Konstitutionen verkörpern “ein Grenzgebiet zwischen Geistesgesundheit und Geisteskrankheit” (Ziehen 1906). Nach Seidel (1988) gebraucht er die Bezeichnung weniger im Sinn einer qualitativen klassifikatorischen Einheit oder zur Charakteristik der Ätiologie, sondern er stellt damit den quantitativen Aspekt der entsprechenden Psychopathologie in den Vordergrund. Den Terminus Neurose im Sinne von Freud benutzte Theodor Ziehen nicht und ignorierte in seiner Kategorisierung tiefenpsychologische Sichtweisen. Darüber täuscht auch nicht die Verwendung des Begriffs “Psychoneurosen” hinweg, dem er eine ganz andere Bedeutung beimaß. In der Auflage von 1926 nahm er Stellung zur Freudschen Psychoanalyse: “Die Psychanalyse wirkt dann also ähnlich wie etwa die Quelle von Lourdes, nur mit dem wesentlichen Unterschied, dass jene – namentlich im Kindesalter – auch sehr oft schwere Schädigungen bedingt, während diese im schlimmsten Fall nicht hilft” (Ziehen 1926). Die moralische Insanie gehört in seiner Begriffswelt zur Imbezillität, und somit billigt er ihr keine eigene Krankheitseinheit zu. Andererseits unterscheidet er die nicht kranheitswertige “ethische Verkrümmung und die psychopathisch konstitutionelle Verkrümmung” (Werner 1983).

Theodor Ziehen betrachtete das Kind im Rahmen seiner Evolutionsanschauungen als ein unfertiges, defizitäres Geschöpf, das er an einigen Stellen mit Tieren und unzivilisierten Völkerschaften verglich, und steht damit im Gegensatz zu Emminghaus, der dem Kind eine psychische Individualität mit einer qualitativen Andersartigkeit zuerkennt. Er kam somit auch nicht zu einer kindheitsspezifischen allgemeinen Psychopathologie. Auf der anderen Seite ermöglichte ihm sein geschlossenes psychologisches System eine umfassende Darstellung der psychischen Störungen des Kindesalters, die Emminghaus mit seiner wenig systematisierten Aufführung von kindlichen psychischen Syndromen ohne exaktere nosographische Klassifikation nicht erreichte. Theodor Ziehen war es dadurch möglich, das erste systematische und weitgehend vollständige Lehrbuch der Kinderpsychiatrie herauszugeben (Herberhold 1977). Auch August Homburger (1926) unterstreicht den Stellenwert der Arbeit für die Entwicklung der Kinderpsychiatrie, während es Harms (1967) nicht möglich ist, das Werk in seiner Gesamtheit zu beurteilen, da er offensichtlich nur den ersten Teil kennt.

Erst in seinen Jahren in Halle hat Theodor Ziehen sich im größeren Umfang mit der kindlichen und jugendlichen Psyche von entwicklungspsychologischer Seite befasst (“Psychologie des Entwicklungsalters” 1915, “Psyche der Jugendlichen im Reifealter” 1920, “Das Seelenleben des Jugendlichen” 1923, “Die Entwicklung der seelischen Funktionen vom 10.-19. Lebensjahre”, 1929), wobei ihn sein System nicht in allen Teilen zu einer entwicklungsgerechten Theorie kommen läßt (Stein 1957).

Auch propagierte er die Beratung der Eltern von ethisch-verwahrlosten, nicht eigentlich kranken Kindern und Jugendlichen und dürfte damit für die heutige Erziehungsberatung Pate gestanden haben (“Ärztliche Wünsche zur Fürsorgeerziehung bezüglich der sogenannten psychopathischen Konstitution” 1913). Nach Peters (1932) leistete er mit einer Vielzahl von Arbeiten einen großen Beitrag zur wissenschaftlichen Fundierung der Heilpädagogik (Zum Beispiel: “Öffentliche Fürsorge für psychopathisch veranlagte Kinder” 1908, “Die Prinzipien und Methoden der Begabungs-, insbesondere der Intelligenzprüfung” 1908, “Die Erkennung der psychopathischen Konstitutionen (krankhaften seelischen Veranlagungen) und die öffentliche Fürsorge für psychopathisch veranlagte Kinder” 1912, 1916, “Zur Aetiologie und Auffassung des sogenannten ,Moralischen Schwachsinns’ ” 1914, “Die Stellung des Kinderhortwesens im Gesamtorganismus der Jugendfürsorge vom ärztlich-pädagogischen Standpunkt” 1916, “Über das Wesen der Beanlagung und ihre methodische Erforschung” 1918, “Allgemeines über abnorme Kinder im Kindergarten und ihre Erkennung” 1921). Er gehörte zu den Mitbegründern des Vereins für Kinderforschung. In Jena beteiligte er sich mit großem Anklang an Lehrer-fortbildungs- und Volkshochschulkursen (Trüper 1900). Schauer (1912) bedauert den Weggang von Theodor Ziehen aus Berlin 1912 als empfindlichen Verlust für das Schul- und Erziehungswesen der Reichshauptstadt. Das Erziehungsheim für psychopathische Knaben in Templin und der Berliner “Erziehungs- und Fürsorgeverein für geistig zurückgebliebene (schwachsinnige) Kinder” verdanken ihm ihre Gründung bzw. ihr erfolgreiches Dasein: “Er hat in seiner Person gewissermaßen den Idealtypus des Schularztes der Zukunft geschaffen” (Schauer 1912). In geringem Umfang beschäftigte er sich ebenfalls mit rein pädagogischen Problemen (“Bildung durch Anschauung” 1930).

Sein Interesse an kinderpsychiatrischen und pädagogischen Fragestellungen scheint bis ins Alter ungebrochen gewesen zu sein, wie aus seiner Publikationsliste ersichtlich wird (“Über die Möglichkeit erziehlicher Beeinflussung Schwachbegabter nach der Schulentlassung” 1926, “Erzieherische Behandlung erblicher Anlagen” 1929, “Intelligenz und Sprachentwicklung” 1933,1934) Auch in seiner zuletzt erschienenen Arbeit wandte er sich dem Jugendalter zu (“Das Seelenleben der Jugendlichen” 1947).

Das Anliegen dieses Beitrags über das Leben und Werk von Theodor Ziehen war es, eine große Persönlichkeit des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts in seiner Vielfältigkeit zu würdigen, da sich diese Universalität auch bei seinem Engagement im Fach Kinder- und Jugendpsychiatrie widerspiegelt. Seinem Bestreben, ein geschlossenes wissenschaftliches Weltbild zu schaffen, ist er auf weiten Strecken gerecht geworden. Das Andenken an diesen bemerkenswerten Mann, der zu Lebzeiten mit Leibniz, ja sogar mit Einstein verglichen wurde, ist es wert, auch für weitere Generationen bewahrt zu werden.

Danksagung: Für die Zusammenstellung der Bibliografie von Theodor Ziehen möchte ich mich bei Frau Nicoletta Fischer bedanken.

5 Bibliografie
5.1 Literatur:

De Boor, Wolfgang: Psychiatrische Systematik. Springer, Berlin, Göttingen, Heidelberg 1954, S. 31, 41-43 Eulner, Hans-Heinz, Glatzel, Walter: Die Psychiatrie an der Universität Halle, Wiss. Z. Univ. Halle, Math. Nat., 1958,VII/2, S. 197-217 Flügel, O.: Ziehen und die Metaphysik, Zeitschrift für Kinderforschung, 1912, 17, S.545-559 Giese, Ernst, von Hagen, Benno: Geschichte der Medizinischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität. Fischer, Jena 1958, S. 602 Graewe, Herbert: Zum 70. Geburtstag von Th. Ziehen am 12. XI. 1932, Deutsche Medizinische Wochenzeitschrift, 1932, 58, S. 1811-1812 Harms, Ernest: Origins of Modern Psychiatry. Thomas, Springfield 1967, S. 180 Herberhold, Ulrich: Theodor Ziehen. Ein Psychiater der Jahrhundertwende und sein Beitrag zur Kinderpsychiatrie. Dissertation, Freiburg 1977, S. 145-148, 155-158, 206-213 Homburger, August: Vorlesungen über Psychopathologie des Kindesalters. Springer, Berlin, Heidelberg 1926, S.V Kleist, Karl: Carl Wernicke, In: K. Kolle, Große Nervenärzte. Thieme, Stuttgart 1959, Band 2, S. 113 Kreuter, Alma: Deutschsprachige Neurologen und Psychiater. Saur, München, New Providence, London, Paris 1996, Band 3, S. 1616-1620 Lanczik, Mario, Elliger, Tilmann: Die Görlitzer Psychiatrische Schule: Von Kahlbaum zu Ziehen. Zur Entwicklung einer systematischen Nosologie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, In: H.-J. Friese, G.-E. Trott, Depression in Kindheit und Jugend. Huber, Bern, Stuttgart, Toronto 1988, S. 40-49 Lenin, Wladimir Iljitsch: Materialismus und Empiriokritizismus. Dietz, Berlin 1964, S. 220, 221 Meyer, Adolf: Constructive Formulation of Schizophrenia. Am. J. Psychiatry, 1922, 1, S. 355-364 Munk, Fritz: In: K. Munk, Das medizinische Berlin um die Jahrhundertwende. Urban & Schwarzenberg, Berlin- München 1956, S.88 Oesterreich, Traugott Konstantin: Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie. Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz 1951, Vierter Teil, S. 311, 401-407 Peters, W.: Theodor Ziehen zum siebzigsten Geburtstag, Kant-Studien, 1932, 37, S. 237-240 Rensch, Bernhard: Biophilosophie auf erkenntnistheoretischer Grundlage (Panpsychistischer Identismus). Fischer, Stuttgart 1968 Ruthe, Paul: Theodor Ziehen als Philosoph, Pädagogische Zeitung, 1914, 4, S.65-67 Schauer, Richard: Theodor Ziehens pädagogische Bedeutung, Zeitschrift für Kinderforschung, 1912, 17, S.398- 414 Seidel, Michael: Theodor Ziehen (12.11.1862-29.12.1950) – Leben und Werk, Psychiat. Neurol. med. Psychol., 1987, 39, S. 693-699 Seidel, Michael: Theodor Ziehen als Psychiater und Neurologe, Psychiat. Neurol. med. Psychol., 1988, 40, S. 232-236 Stein, Ruth: Die Entwicklung der experimentellen Psychologie an der Universität Jena bis zur Errichtung des psychologischen Lehrstuhles. Dissertation, Jena 1957, S. 45-75 Thiele, Rudolf: Theodor Ziehen zum Gedächtnis, Psychiat. Neurol. med. Psychol., 1952, 4, S. 59-61 Trüper, Johannes: Professor Dr. Th. Ziehen, Die Kinderfehler, 1900, S. 225-227 Trüper, Johannes: Dem Philosophen Theodor Ziehen, Zeitschrift für Kinderforschung, 1917, 22, S. 405-410 Vogt, Oskar: Korbinian Brodmann, In: K. Kolle, Große Nervenärzte. Thieme, Stuttgart 1959, Band 2, S. 40 Volz Pia Daniela: Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit. Eine medizinisch-biographische Untersuchung. Königshausen & Neumann, Würzburg 1990, S. 220, 391, 395, 396, 398, 401, 402, 404, 405, 420, 471, 495, 496 Werner, Angela: Zur Geschichte der Kinderpsychotherapie im 19. Jahrhundert. Königshausen & Neumann, Würzburg 1983, S. 164, 165, 172, 185 Ziehen, Theodor: Leitfaden der physiologischen Psychologie in 15 Vorlesungen. Fischer, Jena 1891, S. 2 Ziehen, Theodor: Psychiatrie. Wreden, Berlin 1894 Ziehen, Theodor: Die Ideenassoziation des Kindes. Reuther & Reichard, Berlin 1898 Ziehen, Theodor: Die Geisteskrankheiten des Kindesalters mit besonderer Berücksichtigung des schulpflichtigen Alters. Reuther & Reichard, Berlin 1902, 1904, 1906 Ziehen, Theodor: In: R. Schmidt, Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Meiner, Leipzig 1923, Band 4, S.219-236 Ziehen, Theodor: Die Geisteskrankheiten einschliesslich des Schwachsinns und die psychopathischen Konstitutionen im Kindesalter. Reuther & Reichard, Berlin 1926, S. 448

5.2 Archivalien:

Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek, Universitätsarchiv Jena (UAJ)

Dr. Uwe-Jens Gerhard